Kirchliche Revolution in Langenthal: Die Gemeinde schafft gesetzeswidrig das reformierte Glaubensbekenntnis ab

1871 - 1872

Um 1870 war es im Kanton Bern den Pfarrern noch verbindlich vorgeschrieben, bei der obligatorischen Taufe eines Kindes von dessen Eltern und Paten die Kenntnis des apostolischen Glaubensbekenntnisses zu verlangen. Auch in Langenthal, wo damals der gläubige orthodoxe Pfarrer Friedrich Frank (1801-1874) mit seinem noch konservativeren Vikar Friedrich von May wirkte. Hier hatte nun das grosse Freischarenfest eine antiklerikale Stimmung geweckt, die sich nicht nur gegen den konservativen Katholizismus vielmehr auch gegen den orthodoxen Protestantismus zu richten begann. Nachdem die Kantonssynode 1871 beschlossen hatte, an der Bekenntnispflicht der Eltern und Paten bei der Taufe festzuhalten, beantragte der Langenthaler Sekundarlehrer Joseph Rüefli der Versammlung der Kirchgemeinde, dieser Beschluß sei aufzuheben und in Langenthal sei das Bekenntnis abzuschaffen. Er hatte Erfolg, sein Antrag wurde mit 85:18 Stimmen angenommen. Doch der Beschluß war gesetzeswidrig. Zudem erfolgte er gegen den Willen des Pfarrers. Er und sein Pfarramt waren noch eine staatskirchliche Einrichtung und was der Pfarrer in theologischen Angelegenheiten verlangte, galt. Im Gemeindegesetz von 1852 war die Bekenntnispflicht festgehalten und dieses Gesetz war nicht außer Kraft. Daran erinnerte in der Presse Fürsprecher Johann Bützberger, der durchaus der Meinung von Rüefli war, aber zugleich als Vertreter des Gesetzes auftreten musste. Der Langenthaler Kirchgemeinderat hörte nicht auf ihn und qualifizierte das Gesetz von 1852 kurzerhand als „Machwerk orthodoxer Geistlicher“ welches heutigem Denken nicht mehr entspreche. Die Kirchgemeinde hielt an ihrem Beschluß fest und drängte den orthodoxen Pfarrer und seinen Vikar zur Aufgabe der Bekenntnispflicht und damit zur Demission. „Es herrscht vollständige Anarchie in kirchlichen Dingen“ –schrieb das Berner Volksblatt über die Zustände in Langenthal. Mit seinem Entscheid bereitete Langenthal das neue Kirchengesetz von 1874 vor, welches die Bekenntnispflicht für den ganzen Kanton abschaffte, die Angelegenheiten von Kirche und Staat entflocht, die Institution des staatlichen Pfarramtes abschaffte und die Wahl der Pfarrer den Gemeinden übertrug. Am 17. März 1872 wählten 349 Langenthaler ihren ersten Pfarrer, den freisinnigen Johann Schaffroth aus Murten. Er begründete die Zeit des besonderen Langenthaler Kulturprotestantismus, welcher über 60 Jahre dauern sollte.


Weiterführende Literatur
Simon Kuert: Der Gemeindegedanke in der Kirchengeschichte von Langenthal, 2007


Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.
 

Bilder:
Sekundarlehrer Joseph Rüefli 1867-1886 in Langenthal (links)
und Pfr. Friedrich Frank 1801-1874 (rechts)

Bilder von Joseph Rüfli und Pfr. Friedrich Frank