Bürgerkultur und Arbeiterkultur

1900 - 1960

Im 18. Jahrhundert bestimmten in Langenthal die „Honorationen“, die „Kaufleute und Krämer“ (Pfr. Imhof, 1820) zusammen mit einigen reichen Bauern, Müllern, Wirten und Apothekern das Dorfgeschehen. Sie erarbeiteten für sich grossen Reichtum. Viele waren gebildet und liberal gesinnt. Als Anhänger eines freien Wirtschaftsgeistes förderten sie nach 1850 die Industrialisierung des Marktfleckens. Die führenden Kräfte bestimmten auch die Kultur und engagierten sich in den entstehenden Vereinen (Schützen, Männerchor, Turnverein später Harmoniemusik). Einfache Handwerker, Weber, Schneider, Kleinbauern – die Mehrheit der Bevölkerung – hatten in einem Dorf, „wo das Geld der grosse Nerv ist“ (Ammann, Mumenthaler) kaum die Möglichkeit, zu Ansehen und Einfluss zu kommen. Deshalb fasste in Langenthal früh die „Grütlibewegung“ Fuss. Die vaterländisch und liberal gesinnten Grütlianer (genannt nach dem Rütli) vereinigten neben Arbeitern und Handwerkern auch Akademiker in ihren Reihen. In Langenthal z.B. den Chefarzt und Oberfeldarzt August Rickli (erster sozialdemokratischer Landnationalrat). Er förderte die Kultur und die Bildung der „kleinen Leute“. Die Grütlibewegung erfasste um 1900 auch die neue Schicht, welche durch die Industrialisierung entstand: Den Industriearbeiter. Die Grütlibewegung fusionierte 1901 mit der Sozialdemokratischen Bewegung. Es entstanden in Langenthal neben den bürgerlichen Vereinen auch zahlreiche Arbeitervereine (Arbeiterschützen, Arbeitersänger, Arbeiterturner [SATUS], Arbeitermusik). Die von Rickli gegründete Arbeiterunion vereinigte diese Vereine und fand im Volkshaus ihr Kulturlokal. Die Stärke der Arbeiterbewegung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zeigt sich in den
17 (von 40) Sitzen, welche Grütlianer und Sozialdemokraten 1919 errangen, als das Parlament Langenthals erstmals nach dem Proporzsystem gewählt wurde. Das Nebeneinander der unterschiedlichen politischen und kulturellen Lebensformen spiegelt sich auch in der Siedlungsform. Im Haldeli und im Hard entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts genossenschaftliche Siedlungen, im Bahnhofquartier und auf dem Hinterberg liessen die Industriellen und Handelsleute ihre Villen bauen.


Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.


Bild:
Das Volkshaus im Wuhr - Kulturzentrum der Arbeitervereine

Das Volkshaus im Wuhr: Kulturzentrum der Arbeitervereine