Langenthal: Zwischen 1800 und 1850: Eine Klassengesellschaft

1820

Um 1802 besassen in Langenthal die 15 reichsten Familien rund zwei Fünftel aller amtlich geschätzten Güter. Oder anders gesagt: Knapp sechs Prozent der Bevölkerung verfügte über 40% der Produktionsmittel. Zu den reichsten Langenthalern gehörten neben je drei Wirten und Bauern auch zwei Bleicher, zwei Handelsmänner und je ein Advokat, Apotheker, Arzt, Gerber und Ziegler. Dagegen musste rund jeder vierte Einwohner seine Existenz ohne eigene Mittel fristen und vom Taglohn leben. Durch die Privatisierung von Grund und Boden, die Aufhebung des Weidgangs aber auch durch die neugewonnenen Freiheiten bezüglich Niederlassung, Handel und Gewerbe verlor gerade die Unterschicht manche Nische, die früher das Überleben ohne fremde Hilfe sicherte. Zudem verschwand mit der Aufhebung des Klosters St. Urban in der Helvetik auch die soziale Tätigkeit durch die Mönche des Klosters.

Pfarrer Martin Imhof charakterisierte die Langenthaler Gesellschaft im Visitationsbericht von 1820 folgendermassen:

"Die Angehörigen Langenthals können in drei Klassen unterschieden werden:

  1. Die Honorationen, die im Hauptfleck wohnen und in der Regel aus Kapitalisten, Kaufleuten und Krämern bestehen. Unter diesen findet man mehrere angenehme und gebildete Leute, bei ihren Kindern Herzlichkeit und höfliche Manieren und in ihren Häusern Sittlichkeit, Ordnung und Reinlichkeit.
  2. in die Bauern stricte so genannt, sind meistens rechtliche Leute.
  3. in den Pöbel, der ziemlich zahlreich ist, in dieser Klasse herrscht viel Hang zur Liederlichkeit und Ausgelassenheit."


Das Auseinandertriften der Gesellschaft in verschiedene Klassen wurde den linksliberalen Kreisen im Dorf, die sich selber durchaus den "Honorationen " zuzählten, zum Problem. Eine krasse Ungleichheit widersprach den Werten, für die etwa Pestalozzi in seiner Langenthaler Rede von 1826 einstand. Friedrich Geiser-Rüegger (1797-1870), der Tavernenwirt im Kreuz, holte zusammen mit dem Apotheker Friedrich Dennler denn auch Johann Baptist Bandlin, den Pestalozzischüler, nach Langenthal und stand hinter der linksliberalen Zeitung, dem "Vaterländischen Pilger". Dieser schrieb im Juli 1848 schon beinahe klassenkämpferisch:

"Die beiden Gegensätze Reichtum und Armuth sind aneinander geraten. Millionen von Armen fluchen über das arge Missverhältnis unserer Gesellschaft, dass Wenige die Güter der Erde, bestimmt zur Befriedigung aller, an sich gerissen und in Hochmut und Verschwendung grossthun, während die übergrosse Anzahl der Menschen darben und in Kummer und Elend ein Stücklein Brod geniessen müssen."
 

Weiterführende Literatur
Alfred Kuert: Ein Dorf übt sich in Demokratie. Langenthal zwischen 1750 udn 1850, Langenthal 1997


Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.